Zwölf schwere Börsenjahre
Mitte Dezember ist Angela Merkel aufgewacht. Von ihrer Strategie des Trostpflasters und der Verschiebungstaktik schwenkte sie über Nacht um auf den harten Kurs der Realität: Eine Fiskalunion muss die Richtung sein, in die sich die EU entwickelt. Ich habe diesen Stimmungswechsel hier im Heibel- Ticker umgehend und seither vielfach als richtungsweisend für die Finanzmärkte herausgestellt, und tatsächlich haben sich die internationalen Börsen seither nicht mehr umgeschaut – es ging steil nach oben.
Kurz danach hatte der neue EZB Chef Mario Draghi seine LTRO
(Long Term Refinancing Operation – langfristige
Refinanzierungsoperation) bekanntgegeben und ermöglichte es
Banken, sich unbeschränkt zu günstigen Konditionen auf drei
Jahre zu refinanzieren. Die unmittelbare Folge von der ersten
Runde im Dezember war das Austrocknen von Verkaufsorders an den
Börsen. Banken waren nicht mehr gezwungen, ihre Aktienbestände
zugunsten einer Aufstockung des Eigenkapitals zu verscherbeln,
und so begannen die Kurse zu steigen.
Diese Woche gab es die zweite und letzte LTRO-Runde. Erneut
wurde eine halbe Billion Euro an Krediten aufgenommen. Kapital,
das nicht unmittelbar in die Wirtschaft fließen wird, aber
Kapital, das die angespannten Bilanzen vieler Finanzinstitute
aufbessern wird und dadurch eine Normalisierung der
Kapitalmärkte mit anschließend ansteigender Kreditvergabe zur
Folge haben wird.
Mitte September stand der DAX unter 5.000 Punkte. Euroland war
am auseinanderbrechen, insbesondere da es zu diesem Zeitpunkt
keinen Politiker gab, der sich des Ernstes der Lage bewusst
schien. Heute steht der DAX 2.000 Punkte (40%!) höher, und 25
der 27 EU-Länder haben sich soeben einer härteren
Schuldenkontrolle verschrieben. Schuldenbremse, automatische
Defizit-Verfahren und die Notwendigkeit einer Mehrheit, um ein
solches Verfahren zu stoppen. Sensationell!
Sensationell! Ich muss ehrlich gestehen, dass ich eine solche
Wendung nicht mehr erwartet hatte. Sie werden sich daran
erinnern, wie ich im vergangenen Herbst gewettert habe wie ein
Rohrspatz, weil diese so offensichtlich sinnvollen Ziele so
unerreichbar schienen.
So sind wir heute wieder in der Lage, gute Meldungen mit
Kursanstiegen zu begrüßen und schlechte Meldungen mit einem
Ausverkauf.
Diese Woche hat Aixtron schlechte Zahlen geliefert. Nichts
Überraschendes, wie Sie in meinem TV-Interview vom Vortag
nachlesen können, aber dennoch war es ein Augenblick der
ungeschminkten Realität für Aixtron-Aktionäre, die klipp und
klar gesagt bekamen, dass die Bodenbildung in der Branche noch
lange andauern werde. Im Jahr 2012 dürfe man, wie bereits
mehrfach angekündigt, nicht mit einer Besserung rechnen.
Aixtron fiel um 15%, um sich anschließend wieder in Richtung
der 13 Euro zu bewegen, die ich bereits im vergangenen Sommer
als fairen Wert ermittelt hatte.
Heute hat SMA Solar bekannt gegeben, dass der Umsatz im
laufenden Jahr tatsächlich aufgrund der Beschleunigung der
beschleunigten Solarförderkürzung dramatisch einbrechen werde
und dass dieser Einbruch nachhaltig sei. Das Unternehmen müsse
100 Mio. Euro investieren, um das Auslandsgeschäft auszubauen,
um dadurch gegebenenfalls zu einem späteren, noch nicht genau
terminierten Zeitpunkt wieder auf den Wachstumspfad
zurückzukehren.
SMA Solar steht aktuell mit 4,5% im Minus, doch hier fürchte
ich noch eine Fortsetzung des Abwärtstrends in den nächsten
Tagen.
Gleichzeitig überlegt die Bundesregierung, die Energiewende
statt mit Fördermitteln lieber doch durch (für die Regierung
kostenfreie) Vorschriften zu erzwingen. Wir haben einen Wert in
unserer Beobachtungsliste, der von dieser Entwicklung
profitiert – egal ob das Geld aus Fördertöpfen kommt oder aus
dem Portemonnaie der Hauseigentümer. Die Aktie sprang diese
Woche um 10% an.
Apple hat die 500 Mrd. US-Dollargrenze an Marktkapitalisierung
überschritten. Der Nasdaq war am Mittwoch für einige Sekunden
über die 3.000 Punkte Marke gesprungen. Es folgte eine Rede von
Ben Bernanke, in der er sich NICHT eindeutig zu einer dritten
Runde der Liquiditätsflutung bekannte (QE3). Nach den heftigen
Kursgewinnen seit Mitte Dezember ist es da kein Wunder, wenn
Anleger dies zum Anlass nehmen, einige Gewinne zu realisieren.
Seit November 2000 notierte der Nasdaq nicht mehr über 3.000
Punkten. Sie erinnern sich: Die Internetblase hatte den Index
Anfang 2000 sogar über 5.000 Punkte katapultiert, um in den
folgenden zwölf Monaten auf 1.200 Punkte einzubrechen. Von
diesem Schock hat sich eine ganze Anlegergeneration nicht
erholen können. Erst heute, zwölf Jahre später, nimmt der
Nasdaq wieder Anlauf, um die erlittenen Verluste vielleicht
irgendwann wieder auszugleichen.
Ja, zwölf Jahre ist das her. Ich hatte damals geschrieben (ja,
so lange schreibt Ihr Börsenschreibel schon Börsenbriefe), dass
wir uns auf eine schwere Dekade für die Börse einstellen
müssen. Nun, es sind zwölf Jahre geworden ... und die vielen
Probleme unserer Welt und Finanzbranche sind in aller Munde.
Doch eine negative Stimmungslage ist eigentlich etwas
Positives. Die Probleme sind bekannt, und seit vergangenem
Dezember gibt es sogar brauchbare politische Reaktionen. Ich
habe mir daher einmal wieder alte Werte angeschaut. Dinge, die
in den Neunzigern analysiert wurden, um sich über den
„Gesundheitszustand“ der Aktienbörse zu informieren.
Bewegen sich die Aktienkurse mit der Masse oder können
individuelle Meldungen auch individuelle Kursreaktionen
hervorrufen? Nun, wie oben gezeigt, gibt es wieder individuelle
Reaktionen auf Meldungen, was als gesund betrachtet wird.
Gibt es einen Leithammel? Nun, an der Nasdaq ist das wohl
eindeutig Apple. Die Aktie kriecht kontinuierlich höher und
höher. Kurzzeitige Rückschläge werden sofort zum Kaufen
genutzt, und die Aktie läuft wieder über ihr voriges
Allzeithoch hinaus. Wäre Apple ein Unternehmen mit nur 50 Mrd.
Marktkapitalisierung, dann hätte die Aktie wohl über Nacht
einen Sprung von 50% gemacht (auf 450 Euro). Als größtes
börsennotiertes Unternehmen der Welt braucht es einige Monate,
bis dieser Sprung vollzogen ist.
Übrigens ein weiterer Schlag ins Gesicht der
volkswirtschaftlichen Annahme der perfekten Märkte an den
Börsen.
Steigen viele Aktien verschiedener Branchen an oder handelt es
sich nur um eine kleine Randgruppe, die davonzieht? Nun, neben
der Techbranche mit SAP, Apple, Salesforce.com und EMC hat auch
die Finanzbranche wieder das Laufen gelernt. Schauen Sie sich
mal die Erholung bei der Deutschen Bank und der Commerzbank an.
Selbiges ist auch bei den meisten europäischen Wettbewerbern zu
sehen.
An die guten Meldungen aus der Automobilbranche haben wir uns
schon gewöhnt. Dort werden eine ganze Reihe von Zulieferern
mitgezogen, was Zulieferer wie Leoni, Continental,
Elringklinger, Bertrandt und Fuchs Petrolub zu deutlichen
Kursanstiegen verholfen hat.
Und wissen Sie, was noch bullisch ist? Unternehmen wie die
Deutsche Telekom, E.On, Fresenius Medical Care und Metro stehen
am unteren Ende der Performanceliste der vergangenen Monate.
Unternehmen, die über ein „reifes“ Geschäftsmodell verfügen und
ihre Kunden melken, um eine ordentliche Dividende auszahlen zu
können, werden ausverkauft. Anleger verlassen diese
vermeintlich sicheren Häfen um sich den risikobehafteten
Chancen der Wachstumsunternehmen zuzuwenden. Das ist gesund!
Gibt es denn noch genug Liquidität, um diese Rallye
weiterlaufen zu lassen? Nun, ich würde sagen, dass der Abschied
aus den wachstumsarmen und dividendenstarken Titeln erst der
erste Schritt ist, Liquidität in Wachstumstitel zu steuern. Der
zweite Schritt wird sein, dass Kapital von den unattraktiven
Staatsanleihen abgezogen wird. Wer will sich denn schon mit
1,5% pro Jahr Zinsen zufrieden geben, wenn viele Aktien so
einen Sprung an einem Tag machen? Da ist noch eine Menge
Kapital, das an die Aktienbörse strömen kann.
Zwölf Jahre hält der Trend nun an, dass Kapital aus dem
Aktienmarkt in den Rentenmarkt umgeschichtet wird. Dieser Trend
dürfte meines Erachtens bald zum Erliegen kommen und sich bald
darauf umkehren.
Und last but not least: Ist die EZB auf der Seite der Anleger
oder nicht? Ein Leitzins von über 4% wird einer restriktiven
Geldpolitik zugeschrieben, darunter gilt sie als locker. Eine
lockere Geldpolitik ist bullisch für die Aktienmärkte.
Unser Leitzins steht bei 1%, also so niedrig wie noch nie.
Darüber hinaus hat die EZB diese Woche nochmals eine halbe
Billion an günstigen Krediten in den Markt gegeben (LTRO).
Wundern Sie sich also bitte nicht, dass die Aktienkurse
steigen. Wir haben hier einige sehr kräftige Trends am Werk,
die nicht von heute auf morgen abreißen. Klar, eine
militärische Auseinandersetzung zwischen Israel und dem Iran
würde die Kurse in den Keller reißen – doch nur kurzfristig und
als Kaufgelegenheit. Die Trends würden dadurch nicht umgekehrt.
Und nach 40% Kursplus im DAX binnen sechs Monaten würde es auch
reichen, wenn Angela Merkel einmal wieder mit dem falschen Fuß
aufsteht und Abstriche bei der Umsetzung der Fiskalunion
zulässt. Doch der Gesundheitszustand der Finanzmärkte ist heute
so gut wie seit vielen, vielen Jahren nicht mehr.
Auch wir im Heibel-Ticker bekommen ein Problem auf hohem
Niveau, an das sich viele von uns sicher kaum noch erinnern
können: Man kann derzeit kaum die falsche Aktie kaufen, man
kann höchstens zu lange warten, bis man sich für einen Kauf
entscheidet und läuft in dieser Zeit Gefahr, dass der Kurs
wegläuft. Wann haben Sie zuletzt dieses Problem gehabt?
Der Markt gibt Ihnen eine Chance, Fehler zu korrigieren. Anders
als im August 2011, als Sie nach einem Kauf nur jeden Tag
zusehen konnten, wie das Minus größer wurde. Heute, im Jahr
2012, kann es passieren, dass Ihre Aktie nicht mitläuft – und
dann verkaufen Sie halt und schichten um, meist ohne
nennenswerte Verluste.
7.000 DAX-Punkte sind in Reichweite, und wenn ich mich umhöre,
dann bekomme ich den Eindruck, dass viele Anleger auf dieses
Niveau warten um diesmal nicht mehr den gleichen Fehler zu
machen wie schon Anfang 2000 und nochmals im Jahr 2007 und
nochmals Ende 2010: Jeweils war der DAX über 7.000 Punkte
geklettert, um wenige Monate später dramatisch einzubrechen und
alle Kursgewinne auszuradieren.
Irgendwann hat es auch der Letzte gelernt, dass die Börse keine
Einbahnstraße ist und nimmt Gewinne mit, steckt sie für sein
Altenteil in Staatsanleihen. Und genau das ist der Nährboden
für eine anhaltende Rallye. Optimisten werden an der Börse
derzeit als Irre abgetan.
Also: Aus längerfristiger Perspektive sind die Aktienmärkte
derzeit gesund. Rückschläge, die nach 10 Wochen
kontinuierlicher Kursgewinne immer passieren können, sollten
also zum Kaufen genutzt werden.
Ich denke, diese Erkenntnis wird im Frühjahr auch bei den
anderen Marktteilnehmern dämmern, sodass es, wie meistens, im
Sommer zu einer Verschnaufpause kommen kann. Für unsere
Beobachtungsliste werden wir also in den kommenden Wochen
vorzugsweise sehr kurzfristige Spekulationen eingehen, um dann
im Sommer ausreichend Liquidität für strategische Käufe zu
haben.
Schauen wir einmal, wie sich die einzelnen Indizes diese Woche
entwickelt haben:
WOCHENPERFORMANCE DER WICHTIGSTEN INDIZES
INDIZES 01.03.12 DIFF
Dow Jones 12.980 0,0%
DAX 6.942 1,9%
Nikkei 9.777 1,3%
Euro/US-Dollar 1,328 -0,7%
Euro/Yen 108,3325 0,5%
10-Jahres-US-Anleihe 2,04% 0,1
Umlaufrendite Dt 1,49% -0,1
Feinunze Gold USD $1.714,90 -3,6%
Fass Brent Öl USD $127,04 2,5%
Kupfer in US$/to 8.632 3,2%
Baltic Dry Shipping I 763 8,1%
Der Goldpreis ist eingebrochen. „Schuld“ daran war Ben Bernanke
mit seiner Ansprache in Washington. Doch Bernanke wurde in
meinen Augen falsch verstanden, wie ich in Kapitel 06 im Update
zum Gold darlege.
Öl und Kupfer hingegen sind weiter auf dem aufsteigenden Ast.
Beim Öl sorgen die Spannungen zwischen Israel und dem Iran
weiterhin für diesen Trend. Das Kupfer bewegt sich noch immer
im Rahmen einer breiten Seitwärts-Handelsspanne und zeigt damit
noch keinen signifikanten Ausbruch nach oben an.
Schauen wir einmal, wie sich die Stimmung unter Anlegern und
Analysten entwickelt:
SENTIMENTDATEN
Analysten
Empfehlungen (Anzahl Empfehlungen):
Kaufen / Verkaufen
10.02.- 17.02. (302): 48% / 11%
17.02.- 24.02. (251): 49% / 9%
24.02.- 02.03. (215): 42% / 12%
Kaufempfehlungen der Analysten
Volkswagen VZ, BASF, Gerry Weber
Verkaufsempfehlungen der Analysten
Bouygues S.A., Nordex, Praktiker
Privatanleger
07. KW: 70% Bullen (130 Stimmen)
08. KW: 67% Bullen (131 Stimmen)
09. KW: 70% Bullen (134 Stimmen)
Kaufempfehlungen der Privatanleger
Alcatel-Lucent, Vivendi, Ipsen
Verkaufsempfehlungen der Privatanleger
Q-Cells, Broadvision, Veolia Environment
Die Sentiment-Daten wurden in Zusammenarbeit mit Sharewise
erstellt:
http://www.sharewise.com?heibel
Sie wollen wissen, was die Analysten im Einzelnen für Aussagen
treffen und wo sie die größten Chancen sehen? Ich habe für Sie
ab sofort jede Woche eine Übersicht der Analysen mit den
höchsten Kurszielen ausgearbeitet. Die Liste zeigt ganz einfach
an, wo das aktuelle Kursziel des Analysten prozentual am
meisten über dem aktuellen Kurs liegt:
Firma Analyse vom Kurs Ziel Upside
MORPHOSYS 01.03. 18,25€ 35,00€ +91,78%
GFT TECHN 01.03. 3,17€ 5,00€ +57,73%
COMMERZBK 28.02. 1,97€ 2,80€ +42,13%
ADIDAS AG 29.02. 46,80€ 66,00€ +41,03%
Kabel Dt. 28.02. 45,01€ 63,00€ +39,97%
XING AG 02.03. 49,37€ 68,00€ +37,74%
FREENET 01.03. 10,18€ 14,00€ +37,52%
K&S AG 29.02. 37,13€ 50,00€ +34,66%
Es handelt sich um Analysen aus dieser Woche. Bitte genießen
Sie diese Übersicht mit Vorsicht. Sie wissen ja, dass häufig
auch ein Eigeninteresse des Analysten für eine rosa Brille
sorgen kann, weshalb Analysteneinschätzungen tendenziell
optimistischer ausfallen als es die Realität anschließend
erlauben würde. Aber die Übersicht gibt einen Eindruck darüber,
wo die Erwartungen mit dem aktuellen Kurs am weitesten
auseinander liegen. Wer letztlich Recht haben wird, der Analyst
oder die Anleger, die den Kurs machen, ist in jedem Einzelfall
individuell zu beurteilen.
Im nächsten Kapitel stelle ich Ihnen ein Unternehmen vor, das
Sie alle kennen. Der Kurs ist in meinen Augen zu niedrig, weil
Sie alle den falschen Teil des Unternehmens kennen.
Zukunftsmusik ist in einem anderen Unternehmensbereich zu
finden, den ich näher bringen möchte.