Liquiditätsfalle & Libor-Skandal

Stephan Heibel
Veröffentlicht von Stephan Heibel am 05.07.2012
Dies ist eine exklusive Leseprobe von:

Heibel-Ticker Börsenbrief

Gestern hat EZB-Chef Mario Draghi zum dritten Mal seit seinem Amtsantritt im vergangenen November den europäischen Leitzins gesenkt. Kredite sind nun für Banken in Europa so günstig zu haben wie nie zuvor im Euroland.


LIQUIDITÄTSFALLE

Ein bisschen Volkswirtschaftslehre wird auch Ihnen helfen, die Vorgänge
besser zu verstehen: Unter Liquiditätsfalle verstehen wir Volkswirte
vereinfacht gesagt die Situation, in der mehr Geld (Liquidität) nicht zu
mehr Konsum, mehr Investitionen oder mehr Wachstum führt, sondern im
Wirtschaftskreislauf wirkungslos verpufft.

Jeder Unternehmen hat eine lange Liste an gewünschten Investitionen,
glauben Sie mir :-) Doch stets muss man die Kosten der Investition
gegenüber dem erwarteten Gewinn abwägen. Eine maßgebliche Komponente der
Kostenseite sind Zinszahlungen für die Kredite, mit denen die
Investitionen finanziert werden. Sinkt der Zins, so sinkt die
Kostenseite der Investition und manches Vorhaben, das zuvor noch nicht
lukrativ war, steht plötzlich im Rampenlicht. So kann die EZB mit der
geldpolitischen Maßnahme der Zinssenkung die Wirtschaft ankurbeln.

Dieser Effekt lässt sich sogar berechnen

Wird der Zins also von 3,5% auf 3% gesenkt, so können Banken sich
günstiger Geld bei der EZB beschaffen also zuvor, und diese Ersparnis
wird durch günstigere Investitionskredite an die Wirtschaft
weitergegeben, die Investitionstätigkeit zieht an und damit erhält die
Wirtschaft einen Wachstumsimpuls.

Dies kann erneut wiederholt werden bis der Zins irgendwann so niedrig
ist, dass so ziemlich alle sinnvollen Investitionen getätigt wurden. Nun
folgt ein Phänomen, das wir in der Volkswirtschaft als
"Liquiditätsfalle" bezeichnen. Die EZB könnte die Märkte mit weiterer
Liquidität überschütten, es würden dennoch keine neuen
Investitionsfinanzierungen angeboten, es würden dennoch keine weiteren
Investitionen getätigt werden.

Bilanzen müssen aufgebessert werden

Wir haben es in Europa mit der gefährlichen Situation zu tun, dass
unsere Banken ihre Bilanzen aufbessern müssen. Das bedeutet unter
anderem und vereinfacht gesagt, dass sich das Verhältnis von
Kundeneinlagen zu ausgegebenen Krediten zugunsten der Einlagen erhöhen
muss. Ein Euro Sparkapital sollte nicht mehr zu 80% als Kredit
ausgegeben werden, sondern vielleicht nur noch zu 70%. Entsprechend ist
es den Banken egal wie niedrig der Leitzins gerade ist, wenn das
Verhältnis von Einlagen zu Krediten ausgeschöpft ist.
Und so kann sich nun ein Unternehmen, selbst wenn er investieren wollte,
die Zähne bei seiner Hausbank ausbeißen, er wird trotz bester Bonität
und günstiger Finanzierungskosten keinen Kredit bekommen. Die Liquidität
der EZB versickert wirkungslos in den krisengeschüttelten Bilanzen der
Banken.

Irgendwann, wenn die Bilanzen der Banken einmal wieder gesundet sein
sollten, wird die überschüssige Liquidität wieder ihren Weg in
Investitionskredite und damit in die Wirtschaft finden. Dann sind
Warnungen vor einer neuen Blasenbildung und vor Inflation
gerechtfertigt, doch davon sind wir heute noch weit entfernt.
Warum also sind die Kurse in Folge der EZB-Leitzinssenkung gestern in
den Keller gerauscht? Weil die zusätzliche Liquidität derzeit in den
Bankbilanzen verpufft. Für die Wirtschaft war die Zinssenkung das
falsche Instrument, daher sind die Aktienkurse gefallen.

Man hatte sich einen direkteren Eingriff der EZB gewünscht

Das Verkünden von Staatsanleihekäufen, die derzeit von den angeschlagenen
Banken kaum noch aufgekauft werden können. Das hätte den Banken nur
indirekt geholfen, den Staaten aber direkt. Oder aber eine neue
Liquiditätsspritze zur Verfügungstellung weiterer Investitionskredite an
Unternehmen, damit hätte die EZB direkt für Wachstum gesorgt.
Doch die EZB hat sich auf ihr Mandat besonnen: Geldwertstabilität. Und
wenn ihre Schäfchen, die Banken, kurz davor sind, den Finanzmarkt
auszutrocknen, also für Deflation zu sorgen, dann kümmert sich die EZB
zu Recht zunächst um die Banken, und das hat die Leitzinssenkung
tatsächlich erreicht.  Heute hat die EZB der Versuchung widerstanden, in
die Konjunktur einzugreifen, wie es in den USA schon seit Jahrzehnten
üblich ist, und deshalb hat auch unser Bundesbankpräsident Jens Weidmann
zu Recht für die Zinssenkung gestimmt.

Komisch, dass auch die Bankaktien in den Keller gerauscht sind

Entweder am Markt war man sich des Ernstes der Lage für die Banken nicht bewusst,
und die Entscheidung hat diese Erkenntnis gefördert. Oder aber die
Bankaktien sind gemeinsam mit den anderen Aktien verkauft worden, dann
sollten sie den Verlust bald wieder aufholen. Ich glaube Letzteres ist
der Fall.
Nach einer fulminanten Woche war es ohnehin schwer für die EZB, einen
positiven Impuls zu geben. Die Märkte waren ohnehin reif für eine
Verschnaufpause nach der Rallye der Vortage. Schauen wir einmal, wie
sich die wichtigsten Indizes im Wochenvergleich entwickelt haben:
Schauen wir einmal, wie sich die einzelnen Indizes diese Woche
entwickelt haben:

EU-GIPFELBESCHLUSS: VOLKSWIRTE FÜHLEN SICH BETROGEN

Nach dem EU-Gipfelbeschluss, der den Club-Med Ländern den Zugang zum ESM
erleichtern soll, sind die Aktienmärkte nach oben ausgebrochen.
Gebetsmühlenartig wird in Deutschland immer wieder darauf hingewiesen,
dass Auszahlungen eben nicht bedingungslos erfolgen, doch man glaubt den
Beteuerungen nicht mehr. Zu Recht: Nur der IWF kam bislang als
unabhängige Institution mit festen Reformvorgaben an den
Verhandlungstisch, alle anderen Verhandlungsteilnehmer befinden sich in
einem komplizierten Abhängigkeitsgeflecht innerhalb der EU. Ohne den IWF
am Verhandlungstisch mit Italien oder Spanien ist zu erwarten, dass
Strukturreformen ebenso konsequent umgesetzt werden wie seit dem Vertrag
von Maastricht... nämlich nicht ausreichend.

Der Begriff "Dammbruch" ist schon häufig gefallen

Auch "wehret den Anfängen" las man vor zwei Jahren zum Beginn der Griechenlandkrise
häufig. Auch im Heibel-Ticker habe ich mich damals über die neue
Richtung der Politik aufgeregt. Es hat sich inzwischen gezeigt, dass die
damalige Aufregung gerechtfertigt war, denn die Hilfsaktionen werden
immer größer, immer mehr Länder schlüpfen unter den Rettungsschirm, und
inzwischen wird es geretteten Ländern auch erleichtert, indem man ihnen
die Risiken für ihre zu rettenden Banken abnimmt.

"Cui bono", fragen mich meine Leser immer häufiger auf der Suche nach
dem Sinn dieser Aktionen: Wer profitiert? Die Politiker durch die
Erhaltung Eurolands als Status quo? Angela Merkel hat heute die besten
Umfragewerte seit Jahren! Die Banken durch die Erhaltung ihrer Boni?

170 Volkswirte haben sich in diesen Tagen zusammengerauft und die
Politik Angela Merkels kritisiert. Ich stimme der Kritik zu, doch ich
habe bislang stets die politische Komponente dagegen gehalten. Bislang.
Durch die Aufweichung der ESM-Kriterien ist nun jedoch auch das letzte
Fünkchen Hoffnung auf eine langfristig tragfähige Lösung der
Schuldenkrise erloschen. Es wird der Tag kommen, wo der ESM überfordert
ist, wo Deutschland nicht mehr genug nachschießen kann, um die weiteren
Länder unter dem Rettungsschirm aufzufangen oder wo eine Volksabstimmung
in Deutschland dem Treiben ein Ende setzt.

Dies steht nicht unmittelbar bevor, ich erwarte das nicht innerhalb der
nächsten 12 Monate. Daher werde ich in der Zwischenzeit immer wieder
bullisch sein, immer wieder langfristig solide Titel für Sie vorstellen,
die mit einer ordentlichen Dividendenrendite wertstabil durch turbulente
Zeiten segeln sollten.

Für die zwischenzeitlichen kurzfristigen Stimmungsschwankungen sind die
Sentimentdaten recht hilfreich:

Schauen wir einmal, wie sich die Stimmung unter Anlegern und Analysten
entwickelt:

Die Sentiment-Daten wurden in Zusammenarbeit mit Sharewise erstellt:
http://www.sharewise.com?heibel 

Nach der Rallye dieser Woche sind Analysten mit weiteren optimistischen
Prognosen wieder etwas vorsichtiger geworden. Bei den Privatanlegern
führt die gute Performance hingegen zu einem Anstieg der Laune, der
Pessimismus der Vorwoche hat sich durch steigende Kurse entladen, und
Privatanleger fühlen sich in ihrer bullischen Erwartung bestätigt.

TOP ANALYSTENZIELE

Sie wollen wissen, was die Analysten im Einzelnen für Aussagen treffen
und wo sie die größten Chancen sehen? Ich habe für Sie ab sofort jede
Woche eine Übersicht der Analysen mit den höchsten Kurszielen
ausgearbeitet. Die Liste zeigt ganz einfach an, wo das aktuelle Kursziel
des Analysten prozentual am meisten über dem aktuellen Kurs liegt:

Es handelt sich um Analysen aus dieser Woche. Bitte genießen Sie diese
Übersicht mit Vorsicht. Sie wissen ja, dass häufig auch ein
Eigeninteresse des Analysten für eine rosa Brille sorgen kann, weshalb
Analysteneinschätzungen tendenziell optimistischer ausfallen als es die
Realität anschließend erlauben würde. Aber die Übersicht gibt einen
Eindruck darüber, wo die Erwartungen mit dem aktuellen Kurs am weitesten
auseinander liegen. Wer letztlich Recht haben wird, der Analyst oder die
Anleger, die den Kurs machen, ist in jedem Einzelfall individuell zu
beurteilen.

ZINSMANIPULATION IN DER CITY OF LONDON

Nach dem kleinen volkswirtschaftlichen Exkurs müssen Sie sich heute noch
mit einem Begriff herumschlagen, der eigentlich nur von Profis verwendet
wird: Der Libor - London Interbank Offered Rate, also der Zinssatz, zu
dem sich Banken untereinander Geld leihen.

Banken haben jeden Tag Anlage- oder Finanzierungsbedarf. Mal wandert
durch ein ungünstiges Verhältnis bei der Überweisungstätigkeit der
Kunden mehr Liquidität ab, mal bleibt unterm' Strich was übrig. Wer zu
wenig Liquidität hat, der ruft bei den anderen Banken an und fragt, ob
er sich was leihen kann. Es wird ein Zins vereinbart, und das Geschäft
ist erledigt.

Am Ende des Handelstages melden die Banken den durchschnittlichen Zins,
zu dem sie sich heute refinanzieren konnten, an die Bank of England und
diese errechnet aus den Refinanzierungssätzen von 16 Großbanken den
durchschnittlichen Refinanzierungssatz des Tages, den Libor.

Die Bank of England beaufsichtigt jedoch auch gleichzeitig die Londoner
Banken und achtet auf deren Gesundheitszustand. Gleichzeitig steht die
Bank of England in engem Kontakt zur Politik, anders als die EZB.

Im Sommer 2008, zum Höhepunkt der Finanzkrise, wurden natürlich die
gemeldeten Refinanzierungssätze sehr genau beobachtet. Schließlich kann
man aus dem gegenseitigen Vertrauen der Banken zueinander Rückschlüsse
auf Probleme bei Einzelbanken ziehen. Sollte eine Bank also
außergewöhnlich hohe Refinanzierungssätze melden, so liegt die Vermutung
nah, dass diese Bank Probleme hat. Selbst wenn das (noch) nicht stimmen
sollte, wissen wir spätestens seit Leo Kirch, dass schon die Vermutung
ausreicht, um ernste Probleme herbeizuführen.

Höchste Finanzierungssätze

Wenn dann ein Offizieller der Regierung in einer E-Mail darauf hinweist,
dass Barclays die höchsten Finanzierungssätze meldet und dies zu
Problemen führen könnte, dann denkt das Management natürlich auch über
mögliche Probleme nach. Darüber hinaus wurde in der E-Mail auf
zweideutige Weise darauf hingewiesen, dass die gemeldeten
Refinanzierungssätze nicht immer mit den wirklichen übereinstimmen
könnten.

Für das Management bei Barclays war das ein klarer Hinweis darauf, dass
man doch bitte einen niedrigeren Zins melden möge, damit man keine
Probleme heraufbeschwört.

Dies wurde dann auch fleißig getan, vor zwei Wochen ist dieser Schwindel
aufgeflogen. Fraglich ist nun, wie viele Banken konsequent falsche
Zahlen gemeldet haben. Erschreckend ist, dass der weltweit wichtigste
Zinsanker, der Libor, jahrelang aus falschen Zahlen ermittelt wurde. Nur
in Deutschland sind Festzinskredite für Immobilienfinanzierungen der
Standard. In den meisten Ländern gibt es eine variable Verzinsung, die
sich nach dem Libor richtet. Ganz zu schweigen von Krediten der
Wirtschaft und der Banken untereinander, die zu einem großen Teil am
Libor hängen. Mit anderen Worten: Ein Großteil der Finanzierungen in
Europa und der ganzen Welt ist auf gelogenen Zahlen aufgebaut!

In diesem Fall waren die Zahlen stets zu niedrig, was den
Finanzierungskosten der Kreditnehmer entgegen kam. Doch auf dieser
Grundlage wurden Kalkulationen angestellt, die nunmehr nicht mehr
stimmen. Der Zins wird ansteigen und dürfte bei einigen dazu führen,
dass die Finanzierungskosten nicht mehr getragen werden können.

Der Libor als Thermometer der Finanzbranche hat in den vergangenen
Jahren eine falsche, zu niedrige Temperatur angezeigt. Hätte man früher
schon bemerkt, dass der Patient bereits 43°C Fieber oder vielleicht
später 15°C hat, dann wäre manche "Bankenrettung" vielleicht nicht mehr
erfolgt.

Na ja, gut zu wissen, dass es nur vier Jahre gedauert hat, diesen
Skandal aufzudecken.

 

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